Coaching für die Next Gen

Seit über 20 Jahren ist Dr. Andreas Knierim als Coach für NachfolgerInnen in Familienunternehmen tätig. In seinem Haus Guest Beitrag schreibt er über die Bedeutung von Next Gen Coaching im Prozess der Rollenfindung.

Im Podcast Hermann & Ich war vor kurzem Verena Bahlsen zu Gast. Lena Schaumann fragte sie zum Schluss, was denn ihre Top-Empfehlung für Nachfolger wäre? Darauf Verena Bahlsen: „Coaching und Psychotherapie. Oh mein Gott, Ihr könnt nicht genug davon machen. Coaching und Psychotherapie ist der ultimative Performance-Treiber. Besonders in der Beziehung Familie, Eltern, Kinder, Geschwister könnt Ihr nicht genug davon machen.“

Ich bin ganz ihrer Meinung! Vor vielen Jahren war ich der „Kronprinz“ für das Unternehmen meines Vaters in der Sanitärbranche – und habe mich gegen die Übernahme entschieden. Ich wurde Unternehmensberater und schließlich Coach für „ÜbernehmerInnen“, wie ich sie nenne, denn: NachfolgerInnen folgen nur nach!

Seit 1997 begleite ich KlientInnen im Einzel-Coaching. Ich berichte in diesem Blogbeitrag situativ und praxisnah, um was es im Coaching wirklich geht.

Was ist das Besondere am Next Gen Coaching?

In jeder Phase einer Übergabe ist Coaching hilfreich: Vor der Entscheidung, ob es überhaupt sinnvoll ist, ins Unternehmen einzutreten, nach der Entscheidung/vor der Übernahme und nach der Übernahme/ in der Alleinverantwortung. Wie sind meine Beziehungen in meiner eigenen Familie, im Unternehmen und in der Herkunftsfamilie zu den Eltern, Großeltern, Geschwistern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins? Wie ist meine Beziehung zum Unternehmen, zu Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen, Kund*innen? Und allumfassend: Wie ist meine Beziehung zu mir selbst, meine Träume, Ziele, was sind meine Zweifel und Erkenntnisse?

Im Coaching entwickeln sich Übernehmer*innen von der Selbstreflexion über die Selbstführung zur Selbstwirksamkeit – sie erfahren sich als Ressource in allen Lebenslagen. Denn die Lage ist hochkomplex im Familienunternehmen, schon die Bezeichnung stiftet Verwirrung: Was hat Vorrang, Familie oder Unternehmen?

Next Gens erleben die Coaching-Begleitung praxisnah im Sinn von „Das unterstützt mich jetzt, um mit der momentanen Situation umzugehen“. Mit konkreten Übungen gehen sie aus der Coachingpraxis in den Unternehmensalltag zurück, experimentieren mit veränderter Wahrnehmung und Verhaltensänderungen. Zum Beispiel: Ich halte stand im Hier + Jetzt, Wer trägt was an mich heran mit welcher Intention?, Ich entscheide mich bewusst für die Rolle des Entscheiders, Ich erkenne mich selbst an.

Was sind die Themen im Next Gen Coaching?

Für Haus Next habe ich in den letzten Wochen ÜbernehmerInnen-Coachings aus zwei Jahrzehnten ausgewertet, über 400 Sessions von 2000 bis 2021. Die Themenfelder lassen sich drei konkreten Kategorien zuordnen: Persönlichkeit, Familie und Unternehmen. In diesen Feldern finden sich inzwischen über 600 Themen, die im Laufe der Jahre bearbeitet wurden. Doch was heißt denn bearbeitet? Coaching arbeitet zu Anfang immer mit der Wahrnehmung: Was passiert hier gerade? Wie verhalte ich mich gerade? Was tun die Anderen? Welche Gedanken gehen mir durch den Kopf, was blockiert mich, was fördert mich?

Im Coaching stehen die Beziehungsthemen zu mir selbst, zur Familie und zum Unternehmen im Vordergrund (für Sachthemen konsultieren ÜbernehmerInnen die KollegInnen von der Expertenberatung). Hier nun eine Auswahl aus 20 Jahren Next Gen Coaching – übertragen von den Original-Flipcharts im Original-Ton:

Original-Ton: Beziehung zu mir selbst = Persönlichkeit

  • Ich muss mich nicht verändern, ich verändere nur die Rolle
  • Wie viel Kapazität habe ich, wie viel kann ich steuern? Wie führe ich mich selbst?
  • Mut zur Selbstoffenbarung: Ich sage, wie es mir gerade geht
  • Selbstzweifel als Wegbegleiter
  • Haltung: Es kommt, wie es kom
  • mt; das darf sein; das ist in Ordnung; es kann sein oder nicht sein; die machen das, wie sie es machen
  • Meine Talente: Gespür für das Zwischenmenschliche, Strukturen entwickeln, Neugier und Freude am Tun, Interesse an den MenschenIdentität und Selbstreflexion: Wer bin ich denn? Was brauche ich wirklich?

Original-Ton: Beziehung zur Familie

  • Ich lasse meinen Bruder entscheiden = er ist verantwortlich
  • Klare Nachfolge: Wer entscheidet? Wer verkündet die Entscheidung zum Mitarbeiter
  • Klare Aufgabenverteilung, Rolle Entscheider, Rolle Berater
    Ablösung vom Unternehmer-Vater = akzeptieren = energetisch auflösen, Familienaufstellung machen
  • Machtspiele, Situationskontrolle: Was passiert hier genau? Wer ist beteiligt? Wer hat welches Motiv? Alle müssen sich neu positionieren = die Situation kontrollieren, alle testen ihre Grenzen aus
  • Tue ich es für mich oder für meine Eltern? Kann ich mit meinen Geschwistern? Wie viel Distanz brauche ich? Kann ich teilen? Kann ich das Ganze vor eigenen Wünschen in den Mittelpunkt rücken? Bin ich bei Entscheidungen zur Einstimmigkeit bereit? Will und kann ich Verantwortung tragen und Risiko tragen?
  • Vater steigt aus, hat nur noch den Anlass gesucht, bei mir läuft alles zusammen, ich setze Kräfte frei, ich bin Manager, Leiter, Führer
  • Ich kümmere mich um mich selbst; früher war das egoistisch = schlecht in der Familie

Original-Ton: Beziehung zum Unternehmen

  • Ich bin verantwortungsvoll Unternehmer = ich arbeite in dieser Verantwortung = passiert auf der realen Geschichte = ich entscheide mich für einen Weg
  • Meine Mitarbeiter als Experiment: Jeder ist am richtigen Platz, jeder entwickelt sich, ich sehe jeden einzelnen in seiner wahren Größe, ich gebe mir selbst Perspektive
  • Unternehmensverkauf und Abschied: Ich will frei sein, ist eine Sehnsucht, Bilanz: ich habe es nicht gut gemacht, ich bin jetzt, raus aus der Verantwortung, dann ein Jahr kein Kontakt
  • Ich übernehme bewusst das, was kommt. Vom toten Pferd absteigen. Ich übernehme Verantwortung, ich bin in meiner Verantwortung für das Unternehmen, für mich selbst und mein Leben, alles auf den Prüfstand: Ich will etwas bewirken
  • Ich bin hier freiwillig! Ich bin Unternehmer! Es ist das Schönste, selbstständig zu sein!
  • Meine Rolle ab jetzt: Explorer = Welche Fragen stelle ich?
  • Das ist meine Verantwortung – das ist deine Verantwortung

Haben sich die Themen in den letzten Jahren verändert? Nicht wesentlich! Die ganze Bandbreite an persönlichen, familiären und unternehmerischen Themen ist erhalten geblieben. Die Häufigkeit der Themen in den drei Feldern hat sich - vor allem in den letzten drei Jahren - signifikant zu den Persönlichkeitsthemen hin entwickelt. Danach folgen Themen im Bereich Unternehmen mit ähnlich vielen Nennung und schließlich die Familienthemen, die Mitte der 2010er-Jahren noch an der Spitze standen. Auch gibt es keine Unterschiede der Themenhäufung, wenn wir nach Geschlecht unterscheiden. Töchter und Söhne beschäftigen sich in Übergabesituationen (vor allem im Persönlichkeitsfeld) mit gleichen oder ähnlichen Reflexionen der eigenen Situation. Vermehrte Konfliktstrukturen wie Väter-Söhne oder Mütter-Töchter o. ä. sind nicht signifikant zu identifizieren.

Was sich stark verändert hat, ist meine Arbeitsweise als Coach. Früher waren Coachingprozesses stark von mir vorstrukturiert, am Ende gab es immer die Erarbeitung von Zielen in allen Lebensbereichen. Das lässt sich in der Auswertung der Coaching-Chroniken deutlich herausarbeiten. Seit ca. 10 Jahren arbeite ich anders: Next Gen KlientInnen bringen Themen in die Session mit, wir arbeiten situativ und intuitiv an den Lösungen und finden die nächsten Schritte. Jede, wirklich jede Coaching-Session ist anders, herausfordernd für KlientIn und Coach, immer mit Lernpotenzial für beide. Das Vertrauen in den Prozess ist meine Leitlinie. Ich forsche gemeinsam mit meinen Klient*innen mit Deutungen und Lösungsansätzen an Ursachen, Ver-Wicklungen und Ent-Wicklungen.

Was sind Essentials im Next Gen Coaching?

In den vielen Praxisjahren der Coaching-Begleitung habe ich 40 Essentials für die aktive Alltagsbewältigung im Unternehmen und in der Familie herausarbeiten können. Hier die wichtigsten im Next Gen Coaching:

  • Jeder (auch ich) ist in seiner eigenen Realität, ist gibt keine „Wahrheit“.
  • Die Familiendynamik steht immer vor der Unternehmensdynamik, sie ist einfach älter.
  • Ich trenne zwischen Person („ich nehme es persönlich“) und Profession („ich nehme es professionell“).
  • Ich stille mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit außerhalb des Unternehmens, denn: Führung macht einsam.
  • Ich nehme die Meta-Position ein, betrachte das Geschehen von außen, bin mein eigener Coach und grenze mich ab.
  • Ich erkenne meine Lebensmuster, stoppe sie, wenn sie nicht mehr hilfreich sind und erschaffe mir neue Lebensmuster.
  • Reflexion ist mein tägliche Aufgabe: Wer bin ich? Wie bin ich in Beziehung? Welche Folgen hat mein Verhalten? Wofür (statt warum) tue ich das?

Was sind besondere Momente im Next Gen Coaching?

Am Ende jedes Coachingprozesses füllen KlientInnen einen Fragebogen aus, die aufgestellten Ziele werden bewertet, die Gewinne und konkreten Änderungen benannt, die wichtigsten Erkenntnisse aufgelistet. Ich frage darin auch nach den besonderen Momenten – hier eine Auswahl von ÜbernehmerInnen-Antworten:

  •  „Die erste Sitzung, der Moment des ‚Nebels im Kopf‘. Und dann aus der Situation rausgehen und statt ‚müssen müssen‘ eher das ‚wollen wollen‘. Denn wer soll es tun, wenn nicht ich es tue!“
  • „Die Trennung der Rollen Unternehmen und Familie. An diesem Tag hat es bei mir ‚Klick‘ gemacht. Ich führe ein eigenständiges Privatleben. Das hat nichts mit dem Zusammenarbeiten in der Firma zu tun.“
  • „Das Leben ist nicht Hollywood. Diese Familien gibt es nicht.“
  • „Ein Bild: der positive Zustand der Verwirrung! Es braucht Chaos für evolutionäre Entwicklungen. Ein Leitgedanke, der mich im ersten Jahr geprägt hat.“
  • „Als klar war, das ich meinen Platz gefunden habe, dies war und ist ein tolles Gefühl.“

Eine Auswahl aus den Fragebogen-Antworten finden Sie auch hier.

Bin ich als Next Gen bereit für ein Coaching?

Eine wichtige Frage. Wie in einer Therapie braucht es genügend Leidensdruck, um sich wirklich für Coaching zu entscheiden. Ein Coachingprozess bedeutet vor allem Lernen über die eigene Person, mit allen Sonnen- und Schattenseiten. Es geht zur Sache! Als Coach gebe ich Feedback, konfrontiere und biete Deutung an, was in diesem Moment geschieht und wie KlientInnen auf mich wirken. Das muss man aushalten können. Doch es lohnt sich, das eigene Verhalten zu reflektieren und eine Haltung zu entwickeln.

Denn Coaching, so wie ich es verstehe, ist weit mehr das Erlernen und Anwenden von Tools im Unternehmensalltag. Sie tauchen ein in die Tiefe der eigenen Persönlichkeit und kreieren Einsichten, die über Jahre hinaus wirken – im Unternehmen, in der Familie und bei Ihnen selbst.